36. Kapitel
Wie kannst du nur so früh schon was essen?«, erkundigte sich Mikhail mürrisch, als er Patricks Frühstückszimmer betrat.
Patricks Stimmung war ebenfalls nicht die beste. »Tatsächlich ist es relativ einfach. Nimm eine Scheibe Toast vom Tisch da drüben, und fang an zu kauen«, erwiderte er.
Mikhail hob die Braue und setzte sich neben den schweigsamen Ismail an den Tisch. Er gab einem Pagen einen Wink, ihm eine Tasse Tee einzuschenken.
»Stimmt was nicht?«, erkundigte er sich unschuldig.
Patrick warf einen Blick auf den Osmanen, der aussah, als würde er gleich losplatzen. War er hier der Einzige, der begriff, wie groß die Gefahr war, die von den Wahren Vampiren ausging?
»Ich glaube nicht, dass dem Highlander nach Lachen zumute ist«, bemerkte Ismail trocken und beäugte misstrauisch sein Haggis. »Was ihr Schotten alles esst...«
Konnte denn heute gar niemand ernst bleiben?
»Wo ist die Auserwählte?«, fragte Patrick Mikhail, der in der Times blätterte.
»Nenn sie bitte Angelica. Oder Prinzessin, wenn's sein muss. Dieser ganze Auserwähltenkram ist ihr schon zu Kopf gestiegen«, beschwerte sich Mikhail.
»Ich dachte, das wäre schon immer ihre Art gewesen«, bemerkte Patrick.
»Ja, aber es ist eine nach oben offene Skala, wenn du verstehst, was ich meine«, sagte Mikhail mit einem leidvollen Seufzer. »Mrs. Devon teilte uns mit, dass Violet noch oben ist, und Angelica dachte natürlich, sie kann sofort da raufsegeln und bei ihr reinplatzen.«
»Ich platze nirgendwo rein!«, schnaubte Angelica, die soeben mit Violet den Frühstücksraum betrat.
Alle drei Männer erhoben sich, und die Pagen eilten herbei, um den Frauen die Stühle zurechtzurücken.
»Du kannst bei deinem derzeitigen Umfang gar nicht anders, als in einen Raum reinzuplatzen«, korrigierte Mikhail sie ungnädig. »Ach, guten Morgen, Violet, du siehst gut aus.«
Violet schenkte Patrick ein kleines Lächeln und setzte sich. Es war unfassbar, dachte Patrick, dass ein so schlichtes Lächeln imstande war, sein Herz so schnell schlagen zu lassen.
»Danke, Mikhail, es geht mir auch gut.«
»Das stimmt nicht. Und du Tölpel merkst es noch nicht mal«, fuhr Angelica dazwischen, während sie eifrig Marmelade auf eine Scheibe Toast strich.
»Angelica!«, rief Violet stirnrunzelnd aus, und alarmiert sah Patrick sie an. Es störte ihn, dass sie so weit entfernt von ihm saß. Er hätte gerne alleine mit ihr geredet.
»Was ist los, Violet?«, fragte er besorgt.
»Nichts, gar nichts. Mir war heute früh ein bisschen übel, aber jetzt geht's mir wieder gut.«
Patrick war nicht überzeugt; zwischen ihren Brauen hatte sich eine tiefe Falte gebildet, und sie wirkte erschöpft.
Doch für den Moment ließ er es auf sich beruhen. Sie hatten Wichtiges zu besprechen.
»Ismail, ich habe James eine Nachricht geschickt. Wir wollen uns im White's treffen.«
Der Osmane nickte. »Ich werde die Prinzessin und Mikhail nach Hause begleiten, wo Ayse bereits wartet. Sie hat zehn von meinen Leuten versammelt, die Violet nicht aus den Augen lassen werden, wenn sie sich auf den Weg zu Daniel macht.«
»Ich habe diese Ayse kennen gelernt«, bemerkte Mikhail, »du willst sie zu deiner Nachfolgerin machen, stimmt's?«
»Ja. Sie wird uns nicht im Stich lassen.«
»Gut.« Angelica lächelte. »Und jetzt bring mich nach Hause, Mikhail, ich muss packen.«
»Packen?«, fragten vier Stimmen gleichzeitig.
»Ja, ich werde ab heute hier bei Violet wohnen«, erklärte Angelica in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.
»Nein«, antwortete Patrick sofort. Es gab so viele Gründe, warum Angelica nicht hier wohnen konnte, und der scheinbar unwichtigste war, dass er Violet für sich allein haben wollte. Er wusste gar nicht, wo er anfangen sollte.
»Aber -«, begann die Prinzessin zu protestieren, doch zur allgemeinen Überraschung war es Violet, die ihr widersprach.
»Patrick hat recht, du kannst nicht hierbleiben, Angelica. Das gäbe einen fürchterlichen Klatsch, und Daniel könnte misstrauisch werden, wenn du jetzt auf einmal hier wohnst. Außerdem habe ich mir irgendwas eingefangen, eine Art Grippe, wie du ja schon gesagt hast. Du solltest mir aus dem Weg gehen, du musst an dein Kind denken.«
Angelica sah aus, als wollte sie widersprechen, doch dann gab sie sich geschlagen.
»Na gut, wie ihr wollt. Aber ich komme heute Nachmittag noch mal vorbei, um nach dir zu sehen! Ob du willst oder nicht!«
»Na gut, jetzt wo das geklärt ist, können wir ja gehen«, verkündete Mikhail mit seinem gewohnten, ungezwungenen Lächeln. »Violet braucht Ruhe, und wir sollten diese Freundin von Ismail nicht länger warten lassen.«
»Ismail.« Violet berührte den Osmanen am Arm und hielt ihn zurück, während die anderen verschwanden.
»Ja, Lady Violine?« Jetzt, wo sie seiner Stimme vorurteilslos lauschen konnte, merkte sie erst, wie warm und samtig sie war. Sie bekam ein schlechtes Gewissen.
»Patrick sagte, Sie sind mir nicht böse. Stimmt das?«
»Ja, natürlich. Wieso sollte ich Ihnen böse sein?«
Violet fühlte sich von Sekunde zu Sekunde schlechter.
»Wie können Sie mir so einfach verzeihen?«, wollte sie wissen.
Ismail nahm ihre Hand in seine. »Es ist nicht an mir, Sie zu verurteilen, Violet.«
Sie runzelte die Stirn. »Aber ich verurteile mich selbst. Ich verdiene Ihre Vergebung nicht. Selbst wenn meine Mutter mich angelogen hat - ich habe versucht, Sie zu töten!«
Ismail schwieg einen Moment lang, dann seufzte er. »Es gab da einen Dichter, der vor langer Zeit schon starb. Sein Name war Rumi. Er hat einst geschrieben: Jenseits von Schuld und Sühne liegt ein Feld, auf dem wir uns begegnen werden.
Sie haben getan, was Sie tun mussten. Das Schicksal hat Sie zu uns geführt, Lady Violine. Und ich, der ich in diesem Feld stehe und Sie ansehe, bin dankbar dafür.«
Er war ihr dankbar? Violet war vollkommen verwirrt. Trotzdem begriff sie allmählich, warum Patrick den Osmanen so sehr liebte. Er besaß eine Güte, Wärme und Weisheit, die die Seele berührte und Frieden schenkte. Sie selbst konnte sich nicht verzeihen, aber er gab ihr das Gefühl, dass es zumindest im Bereich des Möglichen lag.
»Ich kann nicht sagen, dass ich Sie verstehe, Ismail, aber trotzdem danke.«
»Sie sind etwas ganz Besonderes, Violet«, sagte Ismail leise und legte ihre Hand auf sein Herz. »Sie glauben vielleicht, diesen guten Menschen hier Schaden zugefügt zu haben, doch in Wirklichkeit haben Sie Patricks Herz geöffnet und uns auf eine große Gefahr aufmerksam gemacht. Seien Sie freundlicher zu sich selbst.«
Violet konnte bloß nicken. Ismail ließ ihre Hand los und folgte den anderen.
Seien Sie freundlicher zu sich selbst. Ja, sie würde es versuchen.
Der Tag schleppte sich dahin, nachdem Patrick das Haus verlassen hatte, um in seinen Club zu gehen, und auch die anderen nach Hause gegangen waren. Violet versuchte, sich hinzulegen, wie Angelica ihr geraten hatte, aber sie hielt es nicht lange im Bett aus. Es ging ihr überraschend gut für jemanden, der sich am selben Morgen zweimal übergeben hatte.
Sie suchte in Patricks Bibliothek Zuflucht. Bess strich ihr um die Beine, als sie den Raum betrat, in dem es so gut nach Büchern duftete. Sie würde Patrick später, wenn er wieder zu Hause war, fragen, ob er ein Buch von Rumi besaß, dem Dichter, den Ismail erwähnt hatte.
Mrs. Devons Geruch riss sie aus ihren Gedanken, und sie wandte sich zur Tür um.
»Ja, Mrs. Devon?«
»Ein Bote war hier und hat eine Nachricht für Sie hinterlassen«, erklärte die Haushälterin sichtlich verwirrt, »wissen die Leute denn nicht, dass Sie blind sind?«
»Nein, die meisten nicht. Aber eigentlich weiß niemand, dass ich hier -«
Violet wusste auf einmal, wer die Nachricht geschickt hatte. »Mrs. Devon, wären Sie so nett und würden sie mir vorlesen?«
»Natürlich, wo Sie doch nicht sehen können...« Violet hörte Papierrascheln, dann las die Haushälterin: »Verlassen Sie das Haus. Gehen Sie nach links bis zum Ende des Blocks. Dort wird Sie jemand erwarten.«
Es war soweit. Daniel hatte die Nachricht fünf Tage zu früh geschickt! Die Frauen und Männer, die Patrick zu ihrem Schutz abgestellt hatte, waren noch nicht bereit. Sie würde allein gehen müssen, wenn ihr Plan nicht scheitern sollte.
Sie durfte Patrick nicht noch einmal im Stich lassen.
»Mrs. Devon, ich brauche Ihre Hilfe. Bitte schicken Sie diese Nachricht an Patrick, im White's Club. Aber warten Sie damit eine Viertelstunde, verstehen Sie? Das ist sehr wichtig.«
»Wie Sie wünschen«, sagte Mrs. Devon noch verwirrter.
Violet hatte keine Zeit für Erklärungen. Sie lief in die Eingangshalle, nahm ihren Mantel vom Haken und ging.
Nervös eilte sie durch die winterkalten Straßen. Trotz der Kälte waren viele Menschen unterwegs. Wie befohlen, hatte sie sich nach links gewandt und ging nun bis zum Ende des Blocks. Sie kam an einer Obstverkäuferin vorbei und fragte sich unwillkürlich, ob die Frau wohl wusste, dass ihr Obst am Verfaulen war. Dann passierte sie ein Blumenmädchen, das nach Gänseblümchen und schmutziger Kleidung roch. Diesem Geruch folgte ein schärferer: ein Kaminfeger.
Sie musste niesen, als ihr Kohlestaub in die Nase drang. Plötzlich wurde sie beim Arm gepackt.
»Hier entlang, Jägerin«, flüsterte ihr eine Stimme ins Ohr. Der Vampir roch nach Menschenblut! Sie erschauderte.
»Wohin gehen wir?«, fragte sie, als sie ihre Stimme wieder unter Kontrolle hatte.
»Das wirst du schon merken«, antwortete er barsch.
Sie merkte sofort, dass dieser Vampir sie hasste. Er würde nicht zögern, ihr etwas anzutun, wenn sie ihm nur den geringsten Vorwand gab.